Drachenstarke Abenteuer Kapitel 10

Mit einem wilden Schrei stürze ich mich auf den Jungen mit dem fehlenden Bein – wie war sein Name nochmal? Ach ja, Hicks – und schwinge mein Schwert. Ich denke, dass ich ihn erwischt habe, aber das ist nicht der Fall. Er hat sich zur Seite abgerollt und jetzt steht dieses Mädchen mit dem Rock vor mir und hält ihre Axt fest im Griff, bereit abzuwehren. Blind vor Wut renne ich auf sie zu, muss aber beiseite springen, weil dieser Nadder dazwischen geht.
„Astrid, halt Sturmpfeil zurück“, ruft Hicks dem Mädchen vor mir zu. Dann sagt er dasselbe zu den anderen Reitern und stellt sich abwehrend zwischen Astrid und die anderen Drachen. Das kriege ich aber kaum noch mit. Ich spüre momentan nur eins und das ist mein Körper. Meine Hände, wie sie den Schwertgriff fester packen. Meine Beine, wie die Muskulatur sich anspannt, bereit zum Loslaufen. Meine Augen, wie sie das Mädchen namens Astrid fixieren. Mein Mund öffnet sich zu einem Schrei, der sich mit dem lauten Gebrüll meines Drachens vermischt. Windreiter kommt langsam zu mir, weiterhin darauf bedacht, Polarlicht und Njura mit seinen Flügeln zu verdecken.
„Nicht! Sie gehört mir“, knurre ich so leise, dass nur Windreiter es hört und sofort weicht er wieder zurück. Im Rücken spüre ich seine Blicke und seine Sehnsucht, sich in den Kampf zu stürzen, aber wenn die anderen Drachen sich nicht einmischen sollen, lässt er es auch sein. Ganz einfach. „Du achtest weiter auf Polarlicht und Njura.“ Aber bevor ich Astrid nochmal angreifen kann, kommt ein zweites Knurren aus der Höhle. Auf einmal halten alle den Atem an und ich drehe mich auf dem Absatz um. Polarlicht liegt immer noch an der gleichen Stelle wie vorher, hat jetzt aber den Kopf gehoben und den Flügel noch weiter gesenkt.
Wir schauen uns in die Augen und dann ist da was. Ich merke, wie sehr Polarlicht innerlich kämpft. Sie würde sich niemals vom Fleck rühren und Njura allein und schutzlos dort liegen lassen, aber irgendwie will sie mir auch helfen. Je schneller diese Drachenreiter verschwinden, desto schneller bin ich wieder bei meiner kleinen Schwester. Windreiter ist es jetzt egal, was ich sage. Da Polarlicht sich jetzt bemerkbar gemacht hat, kommt er zu mir getrottet und setzt sich neben mich. Langsam senke ich mein Schwert und Astrid nimmt ihre Axt runter. Die allgemeine Wut und explosive Spannung wird schwächer, dennoch liegt eine gewisse Anspannung in der Luft und eine unheilvolle Stille senkt sich über den Platz vor der Höhle.
„Ist das… ein Sattel? Auf dem Grünen Schnitter?“, fragt Hicks erstaunt und durchbricht damit die Stille, die schon fast in den Ohren klingelte. Irgendwie bin ich froh, dass Hicks Windreiters Sattel gesehen hat. „Dann ist das dein Drache?“ Skeptisch und mit wachsamem Blick nicke ich.
„Wir sind hier auf Berk, oder?“, frage ich in die Runde. Alle stimmen mir zu. „Ich dachte, ihr tötet Drachen und reitet nicht auf ihnen. Mir wurde erzählt, dass wir die einzigen Drachenreiter weit und breit wären.“
„Weit und breit ist richtig“, antwortet Hicks und kommt ein Stück auf uns zu, bis Windreiter ihn drohend anknurrt. Nicht einen Schritt weiter, sonst warst du mal, scheint er zu denken und ich muss schmunzeln. Hicks im Gegenteil sieht nicht so aus, als lasse er sich davon einschüchtern. Er bleibt zwar stehen, weicht aber nicht zurück und schaut mich an. „Du kommst von weit weg, oder? Solche Drachen wie deinen sieht man hier nicht oft, er ist eher selten. Im Umkreis bis nach Lucktuck sind wir die einzigen Drachenreiter. Würdest du deinem Drachen sagen, dass er ein Stück beiseite gehen soll? Ich möchte den anderen gern sehen.“ Überrascht, dass Hicks Polarlichts Knurren gehört hat, drehe ich mich zu Polarlicht um und schaue dann zu Windreiter. Wir schauen uns an und Windreiter macht ein wenig Platz, damit Hicks Polarlicht sehen kann.
„Uh, uh, uh! Ich will ihn sehen“, tippelt der stämmige Junge – Fischbein, glaub ich – von einen Fuß auf den anderen und läuft dann los. „Lass mich ihn sehen!“ Bevor Fischbein näher als Hicks herankommen kann, knurrt Windreiter wieder, senkt seinen Kopf auf Höhe des Jungen und fixiert ihn mit einem seiner großen Augen. Dann dringt ein leises Lachen an meine Ohren und Windreiter hört es auch. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Zwillinge vorbeischleichen, beide mit einem Stein und einem Ast in den Händen. Erst beobachten wir nur und warten ab, was sie vorhaben, aber sofern wir sehen, dass sie ihre Arme heben, um die Steine zu werfen, springen Windreiter und ich dazwischen. Polarlicht holt schon tief Luft und macht sich bereit, ihren Eishauch einzusetzen und die beiden einzufrieren.
„Nein!“, schreie ich Polarlicht zu und in letzter Sekunde unterbricht sie die Attacke mit einem irritierten Blick auf mich. Mit dem Schwanz wehrt Windreiter die Steine ab und ich ziehe den Zwillingen eins über die Rüben, ehe ich sie anschnauze. „Sagt mal, spinnt ihr? Ihr könnt sie doch nicht so einfach angreifen! Seid ihr vollkommen durchgeknallt? Nächstes Mal lasse ich sie machen!“ Mit sie meine ich Polarlicht, aber ich wollte ihnen noch nicht den Namen verraten, weil ich den Trupp noch nicht kenne. Jedenfalls hat der kleine Zwischenfall den beiden Jungs genug Zeit verschafft, sich näher an Polarlicht heranzuschleichen und jetzt fällt ihnen auf, dass ihre Schuppen im tanzenden Schein des Feuers in allen Farben schimmern.
„Was ist das für ein Drache?“, fragt Hicks mich ehrfürchtig, die großen Augen auf den Drachen gerichtet. Dann kneift er sie zusammen, als wolle er etwas erspähen, was außerhalb seiner Sichtweite liegt. „Ist das… Reif?“ Entgeistert schüttelt er den Kopf und meint, er habe noch nie so einen Drachen gesehen.
„Das ist ein Schimmerndes Eis“, nuschele ich, immer noch auf der Hut. Gemeinsam gehen Windreiter und ich wieder zu ihnen und stellen uns in den Weg.
„Ein Schimmerndes Eis“, haucht der Stämmige. „Das gibt’s doch nicht! Das ist echt einer! Oh, allmächtiger Thor! Das ist einer der seltensten Drachen, die es überhaupt gibt. Genauso selten wie ein Nachtschatten. In den Legenden heißt es, dass ein einziges Schimmerndes Eis eine ganze Insel einfrieren kann, wenn er gereizt oder wütend wird. Er soll, so wie der Skrill, im Eis überleben können, weil er angeblich seine Körpertemperatur regeln kann und sie anpassen kann, sodass er nicht erfriert. Einmal soll ein Wikinger versucht haben, diesen Drachen zu fangen und ist dabei zu Eis erstarrt, weil er ihn nur einmal mit bloßer Haut berührt hat.“ Still höre ich dem Jungen zu und sehe mit hochgezogenen Augenbrauen zu Windreiter. Also, wenn das alles wahr ist, fresse ich einen Besen. „Aber normalerweise sollten Drachen ihre Flügel nicht so halten. Er scheint verletzt zu sein.“
„Du hast Recht, Fischbein“, stimmt Hicks zu und will an mir vorbeigehen. Ich halte ihm mein Schwert in den Weg. So einfach kommt der nicht an Polarlicht und erst recht nicht an Njura heran.
„Erst mal, ist der Drache eine Sie“, fauche ich Hicks an. Wer jetzt an Njura ran will, muss verdammt gute Gründe haben. „Und zweitens ist Sie nicht verletzt!“ Daraufhin guckt Hicks mich mit den großen Augen eines Schrecklichen Schreckens an.
„Was meinst du mit ‚nicht verletzt‘? Warum hält er – nein, sie – ihren Flügel so? Tut ihr das nicht weh?“ Tja, das passiert, wenn man eine Drachenart nicht kennt, aber ich weiß ja auch, wie das ist... Polarlicht hat ihren Flügel so hinlegt, dass niemand meine Schwester sehen kann – der Flügel verdeckt Njuras ganzen Körper und nach vorn fällt er ab, sodass er dort auf dem Boden aufliegt. Scheinbar nicht üblich für die Drachen in dieser Region, aber Polarlicht tut es nicht weh.
„Es tut ihr nicht weh“, flüstere ich leise, dass Hicks mich kaum versteht. In meiner Stimme schwingt wieder Traurigkeit mit, weil ich an Njuras Lachen denken und wie unfair es ist, dass sie dort liegt und nicht ich. Mit gequältem Blick zeige ich Polarlicht, dass es in Ordnung ist, den Flügel zu heben, sie aber warten soll, bis bei ihr bin. Langsam gehe ich zu ihr, und lege meine Hand auf ihre Schnauze, um ihr etwas zuzuflüstern. „Wenn sie Njura etwas antun wollen, dann vertreib sie, egal wie.“ Ich schaue Polarlicht in die Augen und sie gibt mir zu verstehen, dass sie das nicht tun wird. Aber wir brauchen unbedingt Hilfe für sie und eventuell kriegen wir die von denen da hinten. Also versuche ich, Polarlicht zu überreden, aber es ist egal, was ich sage, Polarlicht stellt auf stur. Ich hatte ja schon mitgekriegt, dass Drachen stur sein können, aber so stur, wie Polarlicht jetzt grad ist? Das ist dann doch schon um einiges sturer. Immer wieder rede ich auf sie ein, aber sie lässt sich nicht überzeugen. Ich will grad aufgeben, da kommt der schwarze Drache auf uns zu und raunt Polarlicht was zu. Diese antwortet mit einem leisen Knurren, aber der andere Drache raunt immer wieder, schnurrt ab und zu mal und nach kurzer Zeit hebt Polarlicht skeptisch ihren Flügel.
Sofort fällt mein Blick auf meine Schwester. Der rote Fleck hat sich weiter ausgeweitet und das Gras mittlerweile zur Hälfte getränkt. Wieder steigen mir die Tränen in die Augen und nur mit Mühe kann ich sie zurückhalten. Njura war meine einzige Familie. Ich hatte nur noch sie. Unsere Eltern sind wahrscheinlich auch tot, von den Banditen ermordet, so wie der Rest unseres Dorfes. Und jetzt auch noch Njura. Niemand lebt mehr. Ich habe keine Familie mehr.
Ich bin wie betäubt. Jetzt ist es also soweit. Njura hat es doch nicht geschafft. Sie ist gegangen, fort. Nun bin ich komplett allein. Ich kann auch die Tränen nicht mehr zurückhalten und wende meinen Blick ab. Es ist zu viel, das anzusehen, ich schaffe es nicht. Einer der beiden Jungs in meiner Nähe kommt langsam zu mir und legt mir eine Hand auf die Schulter. Vorsichtig und sanft streichelt die Hand mir zur Beruhigung über die Schulter und mein Gesicht bekommt eine sanfte Brise ab. Durch die Tränen sehe ich meinen Drachen. Er hat sich vor mich gelegt und mir seinen Atem ins Gesicht gehaucht. Er will nicht, dass ich weine, das weiß ich genau. Aber ich kann nicht anders. Njura ist tot. Meine geliebte, kleine Schwester ist weg und kommt nicht wieder.
„Das ist meine“, brüllt Rotzbakke, nachdem er genuschelt hat, wie süß Njura ist. Seine Stimme ist unverkennbar. „Die gehört mir! Ich hab sie gefunden!“
„Hast du nicht!“, kommt eine unbekannte Stimme dazu, wahrscheinlich einer der Zwillinge. „Ich hab sie gefunden, sie gehört mir!“
„Nein, tut sie nicht!“ Die beiden streiten sich immer lauter, aber sie hätten auch direkt neben mir stehen können, ich hätte sie kaum gehört. Es gibt nichts, worum sie sich streiten könnten. Njura ist nicht mehr da. Und sie wird auch nicht mehr wiederkommen. Das hätte ich ihnen am liebsten gesagt, aber meine Stimme versagt, sofern ich was sagen will und es kommen doch nur Schluchzer heraus. Nur ganz entfernt höre ich, wie Hicks die beiden zur Ruhe bringt und selbst leise spricht. Die streichelnde Hand ist verschwunden, also war es wohl Hicks, der mich trösten wollte. Er scheint ein gutes Herz zu haben. Blöd nur, dass er die beiden zoffenden Jungs nicht beruhigen kann und jetzt bekomme ich alles mit, was sie sagen.
„Ich hab sie gefunden, also darf ich sie behalten!“, kommt von dem schwarzhaarigen Jungen. „Sie ist bei mir sowieso besser aufgehoben. Du weißt doch gar nicht, wie man mit einer so zarten Blüte umgehen muss!“ Zarte Blüte? Da hat er recht. Zu zart und zu zerbrechlich für den Kampf, aber ihn das sagen zu hören, regt mich auf.
„Ich hab sie aber zuerst gesehen! Also gehört sie mir! Und bei mir bekommt sie alles, was sie will! Zuallererst mal einen neuen Helm! Sie hat noch keinen“, kontert der Zwilling. So geht das hin und her mit immer wilderen Ideen, bis hin zu der Frage, wie viele Kinder sie letztlich haben werden. Da platzt mir endgültig der Kragen und ich renne ohne Waffe, nur mit erhobenen Fäusten, auf die beiden zu. Dem ersten verpasse ich einen Schlag seitlich gegen den Kiefer, sodass er sofort zu Boden geht. Den anderen ramme ich mit meinem ganzen Körpergewicht und wir beide fallen hin. Ich setzte mich vor ihm auf und fange an, auf ihn einzuprügeln, bis mich jemand wegzieht. Blitzschnell werde ich umgedreht und lande mit dem Gesicht an jemandes Brust. Die Stimme, die mir beruhigende Worte einflüstert, verrät mir, dass es Hicks ist, der mich weggezogen hat. Erst trommele ich auf seine Brust ein, dann beruhige ich mich und schluchze nur noch ein wenig, bis auch das versiegt.
Schnell und voller Scham stoße ich Hicks weg und gehe zu Windreiter. Der winkelt eins seiner Vorderbeine an, damit ich mich in die Kuhle legen kann. „Lasst niemanden zu ihr, Polarlicht, Windreiter“, flüstere ich leise meinen Drachen zu. „Ich entscheide, wo und wann wer zu ihr darf. Und nur weil dieser Hicks einen lieben, netten, treudoofen Eindruck macht, heißt das nicht, dass ich ihm vertraue und ihn an Njura heranlasse.“ Beide Drachen schnauben leise zum Verständnis und Polarlicht senkt ihren Flügel wieder und rollt sich um Njura zusammen.
Das geht auch eine Weile lang gut, aber dieser schwarze Drache ist immer noch an Polarlicht dran und versucht, sie zu überzeugen, dass sie Hicks doch zu Njura lässt. Und überraschenderweise knickt sie ein. Aber warum? Was soll das? Sie hebt den Flügel, den sie über Njura gelegt hat und erlaubt Hicks damit, zu meiner Schwester zu gehen, während ich aufstehe und mich wachsam neben meinem Drachen stelle.


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